Auguste Rodin, L’homme qui marche

L’homme qui marche, 1907 (Der Schreitende, Walking Man), Gips, 
219.2 x 124.2 x 151 cm, Kunstmuseum Basel 

Auguste Rodin, geboren 1840 in Paris und gestorben 1917 in Meudon.


Die betrachtende Person bestimmt wieviel Information sie zum Werk von Auguste Rodin erhalten möchte. Die folgenden Ausführungen sind deshalb gegliedert in Beschriftung, Betrachtung, Kontext und vertiefte Beschäftigung mit dem Thema. Letztere wird mit dem Einfügen von Hyperlinks zu Seiten von Wikipedia (Creative Common Lizenz) angeboten. 

Betrachtung

Beim Umrunden der Skulptur beobachten wir den Wechsel von einem statischen zu zwei dynamischen Momenten, um wiederum in einen statischen überzugehen. Wir gehen einmal um die Skulptur herum, während sich Der Schreitende einen Schritt vorwärts bewegt. Er hebt den Fersen ab, um beginnend mit den Zehen wieder aufzutreten. 

 Auguste Rodin, The Walking Man, 1965, Bronze, Smith College Museum of Art 
© Smith College Museum of Art 

Kontext

Auguste Rodin spricht von der Skulptur L’homme qui marche, welche die betrachtende Person anregt die Skulptur zu umrunden. Die Skulptur möchte sie physisch an der Bewegung teilhaben lassen. Dabei wird eine Bewegungssequenz der mit dem Boden verhafteten Füsse, den Anfang und das Ende eines Schrittes imaginiert. Wir gewinnen dabei den Eindruck, dass sich die Skulptur in einem zeitlichen Ablauf bewegt, in einer verdichteten Zeit oder durée wie es Rodin bezeichnet. 

Torso del Belvedere, Musei Vaticani, 100 Jahre vor Christus, Rom

Mit der Bewegung kombiniert Rodin das Motiv des Torsos. Es handelt sich dabei um die plastische Darstellung eines menschlichen Körpers ohne Gliedmaßen und Kopf. In der Kunstgeschichte spricht man vom Torso und meint damit den Torso vom Belvedere

Torso del Belvedere, Musei Vaticani, 100 Jahre vor Christus, Rom
© Jean-Pol GRANDMONT 

Von der Chronofografie, wie es Eadweard Muybridge mit seinen Bewegungsstudien in Animal Locomotion 1887 beschreibt, grenzt sich Auguste Rodin ab. Im Werk Die Kunst schreibt Rodin: „Wenn auf den Momentfotografien die Personen, obgleich in voller Aktion festgehalten, wie jäh in der Luft erstarrt erscheinen, so hat das darin seinen Grund, dass alle Teile ihres Körpers in ein und demselben Zehntel oder Zwanzigstel einer Sekunde wiedergegeben worden sind; von einer fortschreitenden Entwicklung der Gebärde wie in der Kunst ist hier keine Rede.“ Dies gilt nicht nur für die Chronofografie sondern auch für die antiken Skulpturen. Der Discobolus (Diskuswerfer) steht wie festgefroren da, wie bei einer Fotografie. Es gibt kein vor- oder nachher. 

Discobolus

Myron, Discobolus, Original 450 v.Chr. Original verloren, Lancellotti Discobolus, Replika 140 n.Chr. Palazzo Massimo, Rom 
© Livioandronico2013

Auguste Rodin, Johannes der Täufer

A man bearing load on shoulder, Photogravure after Eadweard Muybridge, 1887
©Wellcome Collection gallery

Umberto Boccioni, Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum, 1913, Museum of Modern Art, New York 
© MoMA

Die meisten Skulpturen in der Kunstgeschichte sind mit dem Motiv der Bewegung gescheitert. Auch Umberto Boccionis hat mit seiner Skulptur Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum trotz seinem Wunsch kein Erfolgt damit. Bei ihr sehen wir keine zeitliche Abfolge mehr. Sie zeigt nur noch die Bewegungskräfte und den Dynamismus, dieser Cyborg zeigt nur ein vorher. Er zieht in den Krieg: „Wir wollen den Krieg verherrlichen…“ wie wir es im Gründungsmanifest des Futurismus nachlesen können. 

Dies gelingt den deutschen DADA Künstlern Georg Grosz und John Heartfield mit ihrer Plastik Der wildgewordene Spiesser Heartfield. Sie stellt Heartfield als Soldat dar, in Uniform mit einem Revolver als Epaulette, mit Orden behangen, einer Beinprothese, ohne Arme und einer Glühbirne als Kopfersatz. Ein Cyborg zweiter Klasse mit einem davor, vor dem Krieg, und einem danach, nach dem Kampf. Hier, aber nicht bei Boccioni, gelingt es wie bei Der Schreitende die zeitliche Kontinuität im Raum darzustellen. 

George Grosz und John Heartfield, Der wildgewordene Spießer Heartfield, 1920, (Rekonstruktion von Michael Sellmann 1988)
© Estate of George Grosz, Princeton, N.J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2019

Auguste Rodin schafft mit L’homme qui marche eine skulpturale Assemblage bestehend aus dem Torso und den Beinen. Beide sind im Zusammenhang mit der Skulptur Der Predigende Johannes der Täufer, entstanden. Der Torso zeigt nicht, wie beim stehenden Prediger, welcher zur Gemeinde spricht, nach vorne, sondern in die Bewegungsrichtung des Gehens. 

Auguste Rodin, Johannes der Täufer, 1878/1880, Bronze, grün und schwarz patiniert, Kunsthalle Bremen 
© Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen

Rodin gelingt damit die skulpturale Darstellung des menschlichen Körpers in sequentieller Bewegung.

Rodin gelingt damit die skulpturale Darstellung des menschlichen Körpers in sequentieller Bewegung. Mit beiden Füssen fest auf dem Boden stehend gelingt ihm die Darstellung der Bewegung am Anfang und am Ende eines Schrittes. Der fehlende Kopf und die nicht vorhandenen Arme verstärken diese Wahrnehmung. 

Aus dem Vermittlungsprojekt Digitales Angebot (QR-Code) für die Vermittlung von Kunstwerken