Die Entwürfe für die Chorscheiben des Basler Münsters
Die fünfzehn Scheiben berücksichtigen theologische Überlegungen und ein ikonographisches Programm, welches sich in den Raum mit den bestehenden Lichtverhältnissen einfügen. Die Ikonographie (Bedeutung im Zusammenhang mit der inhaltlichen Deutung) soll für die Gläubigen leicht erfassbar sein und die Heilsgeschichte zum Inhalt haben. Im Mittelalter können die meisten Gläubigen nicht lesen, weshalb die Heilsgeschichte in Form von Bildern vermittelt wird. Brice Marden versucht dies mit seinen abstrakten Entwürfen aufgrund seiner Sinneseindrücke vor Ort (Basler Münster) zu leisten.
Chor des Basler Münsters, ©Eric Schmidt
Die fünfzehn Scheiben sind für die fünf spätgotischen Fenster des Chors, die sechs Rundfenster der Empore und die vier romanischen Fenster des Chorumgangs gedacht.
Erster Entwurf (1980, Window Study I)
Brice Marden, Studie zum Fenster im Chorscheitel, 1980, Bleistift, Tinte und Blau, rechts, ©ProLitteris, Zürich.
Brice Marden, Studie zu 15 Chorscheiben Basler Münster, 1980, Bleistift und Tinte, ©ProLitteris, Zürich
Beschreibung:
Lanzettfenster (hohes schmales Fenster mit einem Spitzbogen als Abschluss) im Chorscheitel: Der Entwurf ist monochrom und mit Bleistift vorgezeichnet. Mit Tinte (Feder) und Blau (Pinsel) auf Papier wird eine zweite Schicht aufgetragen. Die weissen Fehlstellen repräsentieren das Stab- und Masswerk der Fenster. Die horizontalen Striche (vor allem Schwarz und wenig Blau) sind in unterschiedlicher Häufigkeit beidseits des Stabwerks angeordnet. Die Dichte der Striche ist nicht symmetrisch, sondern komplementär angeordnet. Sie sind von unterschiedlicher Dicke und in unterschiedlichen Abständen rhythmisch angeordnet. Als Kontrast sind die vertikalen Linien in der ganzen Höhe unverändert und alle in Schwarz durchgezogen.
Korrekturen erfolgen durch Ausradieren (Bleistift) und Wegkratzen (Tinte, Blau) und die Oberfläche erhält durch Reiben beim Chorscheitelfenster einen Glanz. Horizontal ergeben sich zu beiden Seiten unterschiedliche Helligkeitswerte.
Brice Marden versucht mit dieser orthogonalen Anordnung von Linien (vertikal) und Strichen (horizontal) eine ganztägige konstante Lichtintensität im Raum zu erzeugen. Dafür ist auch die Ausrichtung der Kirche, der Ort des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs mit zu berücksichtigen.
Es besteht ein vertikaler Bezug von Chor-, Emporen- und Umgangsfenstern. Beim Chorscheitelfenster erkennt man ein T, eine Säule, welche oben mit einem Querbalken endet, entsprechend einem Taukreuz (Antoniuskreuz). Im Spitzbogen sieht man ein lateinisches Kreuz auf einer Kugel. Das lateinische Kreuz erscheint näher und das Taukreuz ferner, was eine Raumwirkung evoziert. Die Augen wandern von links nach rechts, von unten nach oben und von vorne nach hinten. Dies ist für Marden die Bewegung im Raum. Beim lateinischen Kreuz mit der Kugel denkt man auch an eine kreuztragende Weltkugel. Ein Reichsapfel (Herrschaftszeichen) des Heiligen Römischen Reichs als Zeichen des Gottesgnadentums. Ein Reichsapfel wird erstmals von Papst Benedikt VIII kurz vor der Kaiserkrönung am 14.2.1014 an Heinrich II überreicht, den Stifter des Heinrichs- oder Basler Münsters (1019).
Brice Marden, Detail zur Studie zum Chorscheitelfenster, 1980, Bleistift, Tinte und Blau, ©ProLitteris, Zürich
Reichsapfel des Heiligen Römischen Reichs, ©Arnoldius
Dieser erste Entwurf erinnert an Arbeiten von Piet Mondrian, welcher in der orthogonalen Anordnung mit den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Vierecken, Strichdicken und den Primärfarben Blau, Gelb und Rot eine Harmonie suchte.
Piet Mondrian (De Stijl), Composition in Red, Blue and Yellow, 1937-42, Öl auf Leinwand, ©The Museum of Modern Art, New York
Zweiter Entwurf (1983, 1985, Window Study II)
Brice Marden, Window Study II, 1983, Aquarell und Tinte auf Honey Comb (Bienenwabe), Bleistift, als Gesamtbild der fünfzehn Chorscheiben, ©ProLitteris, Zürich
Brice Marden, Window Study II, 1983, Aquarell und Tinte auf Honey Comb (Bienenwabe), Detail für das gotische Chorscheitelfenster, ©ProLitteris, Zürich
Brice Marden, Window Study II, 1983, Aquarell und Tinte auf Honey Comb (Bienenwabe), Detail für das Rundfenster der Empore, ©ProLitteris, Zürich
Brice Marden, Window Study II, 1983, Aquarell und Tinte auf Honey Comb (Bienenwabe), Detail für das romanische Chorumgangsfenster, ©ProLitteris, Zürich
Beschreibung:
Beim zweiten Entwurf handelt es sich um lineare, monochrome Zeichnungen, eingebettet in der Farbe des roten Sandsteins. Das orthogonale Muster ist durch die Vorzeichnung mit Bleistift gut sichtbar. Das Stab- und Masswerk ist schraffiert vor den Glasfenstern positioniert, tritt aber durch die Farbe in den Hintergrund. Die Farbe selbst ist bei den Chorfenstern flächig und bei den Emporen- und Chorumgangsfenstern punktförmig aufgetragen. Bei Letzteren entsteht dadurch ein Flimmern. Man sieht auch beim zweiten Entwurf einen blau-grünen Querbalken im mittleren Chorfenster, wie wir ihn schon als Taukreuz vom ersten Entwurf her kennen.
Brice Marden, Elements IV, 1983/84, Öl auf Leinwand, acht Teile, (Chorscheitelfenster), ©Sothebys
Brice Marden, Window Study II, 1983, Öl auf Leinwand (Chorumgangsfenster), ©ProLitteris, Zürich
Beschreibung der Farben:
Jan van Eyck, Genter Altartafel, 1432/35, Öl auf Holz, St. Bavo Kathedrale, Gent, gemeinfrei
Die Farben der mittelalterlichen Genter Altartafel sind Rot, Blau, Gelb und Grün. Die Farben hat deshalb Brice Marden für den Entwurf der Chorscheiben des Basler Münsters nicht zufällig gewählt. Es sind die Farben, welche eine spezifische Bedeutung im Sakralraum haben.
Die Farben der mittelalterlichen Genter Altartafel sind Rot, Blau, Gelb und Grün. Die Farben hat deshalb Brice Marden für den Entwurf der Chorscheiben des Basler Münsters nicht zufällig gewählt. Es sind die Farben, welche eine spezifische Bedeutung im Sakralraum haben.
Die Symmetrie wird auch hier von Brice Marden mit den Farben Rot, Blau, Gelb und Grün unterlaufen. Dies kann als die Unmöglichkeit der Vereinigung von Inkompatiblem verstanden werden: Mensch-Gott, Sünde-Gnade, Vernunft-Offenbarung, Schöpfung-Erlösung. Die vier von Brice Marden verwendeten Farben besitzen im sakralen Kontext folgende Bedeutungen (im Christentum, für die Elemente, für den Menschen): das Rot (Inkarnat, Feuer, Seele), das Gelb (Goldgrund, Luft, Geist), das Blau (Lapislazuli, Wasser, Körper) und Grün steht für die Erde. Brice Marden beschäftigte sich mit den Mischungen/Rezepturen der Farben und den Techniken aus dem Mittelalter, um eine Farbigkeit wie im Mittelalter hervorzurufen.
Die Striche erscheinen bei den Chorfenstern in unterschiedlicher Tiefe. Dieser Effekt entsteht durch das Abkratzen der Masswerkzeichnung im grünen Chorfenster und das Übermalen mit transparenter Aquarellfarbe oder mit Tusche. Beim grünen Chorfenster erhält man den Eindruck einer Blindprägung. Dies ist eine im Mittelalter übliche Methode zur Einprägung von Mustern.
Programm:
Die Bedeutung der Fenster besitzt einen materiellen und einen geistigen Anteil. Das Materielle manifestiert sich durch das Lösungsmittel, die Pigmentfarben und die noch sichtbaren Pinselspuren, welche von Künstlerhand aufgetragen werden. Der geistige Anteil wird bestimmt durch die Transformation des Lichts, welches durch die Fenster ins Innere des Kirchenraums dringt. Die Farben repräsentieren die vier Elemente, welche durch den natürlichen Lichteinfall den Chorraum beim Sonnenaufgang in Blau und Gelb und beim Sonnenuntergang in Rot hüllen. Die Striche auf den Fenstern des Chorumgangs und der Empore weisen zur Mitte und nach oben. Sie gehören zum ikonographischen Programm, welches die Offenbarung des Johannes beinhaltet, mit der Vision des himmlischen Jerusalem (Jesus kommt bald) am Ende der Apokalypse (Offenbarung, Gottes Gericht).
1. Gitterzeichnungen
Brice Marden, Untitled, 1974/78 (Vgl. Christian Müller, Brice Marden, Werke auf Papier im Kupferstichkabinett des Kunstmuseums Basel, 2007, S. 15, ©ProLitteris, Zürich)
Beschreibung
Das Grundmuster besteht aus gleichmässigen horizontalen und vertikalen Linien. Sie ergeben Quadrate. Die Binnenzeichnung der Quadrate enthält in ungleichmässigen Abständen horizontale, vertikale und diagonale Striche: Letztere reichen über mehrere Quadrate. Diese werden ergänzt durch Handschraffuren. Mit dieser Anordnung finden sich auf der Zeichnung Orte mit grossen Helligkeitsunterschieden. Dies entspricht einer abstrakten Linienmalerei mit dem Spiel von Helligkeitsunterschieden, wie wir es beim ersten Entwurf von Brice Marden für die Chorscheiben des Basler Münsters sehen.
2. Druckgrafik
Beschreibung:
Diese Druckgrafik mit händischer Nachbearbeitung besteht aus vier flächenbündig nebeneinander aufgetragenen Drucken. Das orthogonale Muster besteht hier aus unterschiedlich breiten und langen Strichen in unterschiedlichen Abständen. Die Druckplatte bearbeitet er mit dem Zuckersprengverfahren (gleichmässige Töne), kombiniert mit dem Aquatintaverfahren (Halbtöne).
Brice Marden, Untitled, 1980 (Vgl. Christian Müller, Brice Marden, Werke auf Papier im Kupferstichkabinett des Kunstmuseum Basel, 2007, S. 17, ©ProLitteris, Zürich)
Diese Techniken ermöglichen ihm ein Zeichnen auf der Druckplatte und damit indirekt auf dem Papier. Den Druck überarbeitet Brice Marden anschliessend mit Aquarellfarben und Tusche. Auf diesem Blatt verwendet er Blau, Braun und Grau als Farbe und schwarze Tusche.
Die Gesamtwirkung wird bestimmt durch die unterschiedliche Transparenz, die Helligkeitsabstufungen und die unterschiedliche Tiefenwirkung.
Die Gitterzeichnungen und Druckgrafiken von Brice Marden können als von ihm erprobte Verfahren gesehen werden, welche als Grundlage für seinen ersten Entwurf für die Chorscheiben des Basler Münsters gedient haben. Sie dienen zur Erforschung des Lichts, der Helligkeitsverteilung im Tagesverlauf und zu Experimenten mit der Tiefenwirkung. Die Wirkung seiner Malerei im Innenraum des Basler Münsters wird mit diesen Arbeiten bereits vorweggenommen.